Karl Wessels: "Herbstzeichen und Volkstum"

Karl Wessels, Kirchhellen.

Nach einem verregneten Sommer rückt der Herbst heran. Wie grüßen ihn guter Zuversicht voll. Wollen goldnen Sonnenschein von ihm erwarten. Herbstsonne für die große Ernte und brausenden Wind für das lustige Spiel. Sieh, da ist er schon, der Altweibersommer und spinnt seidenfeine Silberfäden in den Sonnenschein, spinnt und spinnt, solange es dem Brausewind und seinem Regenbruder gefällt. Wind und Regen sind Feinde von flimmernden Fäden.

Im lichten Sonnenschein reift des Waldbodens letzte Ernte. Rotwangige Preißelbeeren in Prollen zu dreien und vieren lachen am hohen Hand, zum zweiten Male im Jahre herbsüße Früchte bescherend.

Menschenkinder, große und kleine, Körbe im Arm, durchstöbern den Tann, wo an feuchtwarmen Tagen Pilze schießen. Schleppen Lasten heim. Hier lugen wüstgroße Steinpilze, dort zierliche Stockpilte über den Rand des Korbes.

Auf den breiten Wallhecken bräunen die Haselnüsse. Leider sind die ölhaltigen Herbstfrüchte dieser Art, auf heimischem Boden gewachsen, selten geworden, so selten wie die Wallhecken selbst. Beide, Wallhecke und Haselnußstrauch, kennt man fast nur noch dem Namen nach. Das war zu Väters Zeiten anders. Damals gab es keinen Herbst ohne Haselnußernte. Was das ein fröhliches Suchen! Aus jenen Tagen stammten die Rätsel und Sprüche, die den Nüssen angehängt wurden. Hier ist eine Nuß zu knacken:

Eck wet en Männken,
et hängt an'n Riesken,
hät'n höltern Wämsken an.

Eine andere ganz leckere Herbstfrucht ist die köstliche Brombeere. Sie lockt mit glänzendem Schwarzgesicht: "Komm her und pflücke mich! Ich reifte für dich. Nimm mich doch mit!" Wer läßt sich das zweimal sagen? Unser Waldvögelein, das den ganzen Sommer beim stacheligen Dornstrauch ein- und ausgepflogen ist, labt sich an den Früchten des Herbstes. Noch sind die Blätter sommergrün., doch hier und da leuchtet es karmesinrot auf. Meister Herbst beginnt zu malen. Nur eine kleine Probe hat er gegeben, und sie ist gut, so recht bunt ausgefallen. Einige Wochen weiter, dann wird die hohe Dornhecke in herbstlichem Glührot aufleuchten.

Zwei dornige Brüder, der gemeine Weißdorn und der Schwarzdorn, tragen auch Früchte. Letzterer ist unter dem Namen Schlehdorn bekannt. Die schwarzblaue Schlehe wird erst nach dem Frost genießbar. Probierst du sie eher, dann wird sich dein Mund zusammenziehen und dein Gesicht eine bittere Maske aufsetzen. Der scharfe Dorn, der dem Strauch eine nützliche Waffe ist, wird von den Landleuten bei der Hausschlachtung gebraucht, um damit die Wurstenden zusammenzuhalten.

Auch die Frucht der Heckenrose, unsere Hagebutte, reift täglich mehr. Sie ist das Männlein im Walde, von dem uns Simrock das folgende Rätsel überliefert hat:

Mannchen im Strauch,
hat ein schwarz Käppchen auf,
ein rot Mäntelchen um
und Steinchen im Bauch:
Wie heißt's Männchen im Strauch?

Die Steinchen im Bauch bilden das Juckpulver. Kinder treiben damit ihr ärgerliches Spiel, indem sie es ihresgleichen in den Nacken stecken. Dieselbe Freude haben sie auch an dem Spiel mit den Früchten der Klette.

Wer kennt nicht die scharlachroten Beeren der Eberesche, der falschen Esche oder Steinbeere? Fleutpiepenholt nennen unsere Jungens die Eberesche, weil sie aus ihrem Bast und Holz im Frühjahr Hupen und Pfeifen machen. Im Herbst aber kommen die Beeren in die Knallbüchse und werden wieder herausgeschossen. In anderen Gegenden heißt die Frucht Vogel- oder Krammetsbeere, weil sie von den Vögeln, vorzüglich von den Krammetsvögeln, auf ihrer Herbstreise verzehrt wird. Der Vogelfänger benutzt die Beere als Lockpfeife im Dohnenstieg. Die Dohne, eine mörderische Fangvorrichtung, ist jetzt polizeilich verboten. Damit hört auch der Mißbrauch, der mit den schönen Beeren des Waldes getrieben wurde, auf. Als Zierbaum nimmt die Eberesche ihren Platz an den Straßen und in den Vorgärten ein. Hier erstrahlen im Frühling ihre Doldenblüten, leuchtet im Herbst das Rot ihrer Beeren.

Den Reigen der roten Herbstfrüchte beschließen Waldgeißblatt und Schneeball. Die veredelte Form des Schneeballs ist die bekannte Zierpflanze unserer Gärten. Sie trägt aber keine Früchte.

Eine giftige Pflanze mit roten Beeren muß noch erwähnt werden. Es ist der bittersüße Nachschatten, der an den Sumpfweidenbäumen meterhoch emporwächst. Seine Beeren sind ungiftig, werden darum von den Vögeln gefressen und verbreitet. Zum Glück gibt es in unseren heimischen Wäldern nur wenige giftige Beeren. Auch die Beeren der giftigen Eibe - Taurus - sind giftfrei. Ungenießbar dagegen ist eine ganze Reihe. Ich nenne die bekannten Früchte des Faulbaums, des Schneeballs, des Hartriegels und der Eiche.

Damit kommen wir zu unseren großen Waldbäumen, deren Früchte zwar klein, aber groß an Zahl sind. Ihre Unmenge gab ihnen zu allen Zeiten eine gewisse Bedeutung. Außerdem haben Eicheln und Eckern bestimmte Nährstoffe. Darum dienten sie von altersher der Schweinemast. Der Gauhirte trieb seine Schützlinge in den Gemeindewald, wo sie bei reichlicher Ernte ein freßlustiges Dasein führten. Aus jenen Tagen mögen wohl die beiden folgenden Rätsel stammen.

Hingele-Bingele, de henk dor,
Hingele-Bingele, de föll dor,
Husche-Buschele, de leip dor -
Wär Kiff-Kaff nech gekommen,
wär Husche-Buschele met Hingele-Bingele
dedür gegohn. (Eichel, Schwein, Hund)

Järst grötter as 'n Hus,
dann klenner as 'n Mus,
oambds geht verbenig no Hus.
(Eichenbaum, Eichel, Schwein.)

Auch die Kinder sammelten Eicheln und Bucheckern mit vielem Fleiß und großer Freude. Unter rauschendem Laub wurde das "Bauk" hervorgesucht, der weiße Kern mit Wohlbehagen verzehrt. Während des leidvollen Krieges wurden die Früchte unserer Rotbuche in Mengen gesammelt und zur Oelbereitung abgeliefert. Die Eicheln boten den Kindern allerhand Spielzeug und angenehme Beschäftigung. Die Mädchen machten Ohrgehänge daraus oder reihten sie zu Schnüren und Kränzen aneinander. In Scheiben geschnitten war ihnen die Frucht Kuchenteller und Kuchen zugleich. Die Schale diente den Jungen als Mutzpfeife. War es auch ein Phantasiegebilde, so freute sich die Jugend doch darüber, es den Alten im Rauchen nachmachen zu können. Harmloses Vergnügen. Ein sinnvoller Apparat war die Roesekatte. Zu ihrer Herstellung gebrauchte man eine Eichel, einen Nagel und eine Kartoffel.

Ueberhaupt die Knaben, was sie aus den Gaben des Herbstes nicht alles machen können! In ihrer Hand wird selbst die giftige Frucht der Kartoffel zu einem vielgesuchten Spielzeug. Die grünen Kugeln werden einem spitzen Stocke aufgesteckt und über Bäume und Sträucher in die hohe Luft gescheudert.

Loser Herbstwind hebt den ersten Drachen über Stoppel- und Kartoffelfelder. Nur schade, daß das Netz der Drähte und das Meer der Häuser immer größer, die freien Felder aber immer kleiner werden! War das früher eine uneingeschränkte Luft! In scharfem Anlauf wurde der große Vogel zum Steigen gebracht. Machte er tolle Kopfschüsse, dann war der Schwanz zu kurz, der schnell verlängert werden mußte. Hatte der Windvogel nun endlich sein Reich erobert, dann wurde Zweisprache mit ihm gehalten. Stille Gedanken und Wünsche waren immer bei ihm:

"So drauf liegen im sonnigen Strahl,
ach, wer das doch könnte nur ein einziges Mal!"
Blüthgen.

War das nicht ein lieber Wunsch! Leider ließ er sich nicht verwirklichen. Aber eine feine Luftpost kannte man damals schon. Eine durchlöcherte Postkarte wurde dem langen Bindfaden zur Beförderung übergeben. Wie sie an den Sonnenbanll, als das Wolkenpferd oder an den Windkönig selbst gerichtet? Wer weiß das heute noch?

Zugvögel umkreisen und überfliegen den Drachen. Sie sind auf ihrer Südlandsreise. Scharen von Schwalben sammeln sich am Kirchturm. Dann hängen sie in langen Reihen am Telefondraht. Und dann sind sie verschwunden. Es geht Italien zu. "Dort will man dich fangen, armes Schwälbchen, hüte dich!"

Noch immer blüht die Heide bunt und blumenrot. Sie kommt so spät im Jahre mit ihrer Pracht, dafür ist sie aber auch verschwenderisch schön. Braun und grün und blaurot ist jetzt unsere Heide. Und wie sie duftet! Das wissen auch die Bienen. Sie haben ihre Heidewohnung bezogen. Dort steht ein Kasten neben dem anderen, Korb über Korb. Der süße Honig lockt. Heideflug ist Weideflug. Fleißige und kluge Sammler sind unsere Bienen. Sie sammeln für den Winter.

Auch die Menschen sammeln. Ihre Frucht reift in schwarzer Erde. Fleißige Hände suchen. Und viele Rücken bücken sich tausendmal Tag um Tag. Auch die Kinder Sammeln, doch nicht nur für den Keller, sondern auch für das Kartoffelfeuer. Wenn der Abend kommt, flammt trockenes Kraut auf. Frohe Kinderaugen leuchten. Dicke Erdäpfel fliegen in die Glut. Wie sie schmecken werden! Weiße Rauchwolken wehen zu Tal, reichen dem Nebel die Hand und verschleiern den Tag, verschlafen die dunkle Nacht und - verfliegen.

Im Herbst bringt die Rübenernte neue Freuden. Die größte Runkelrübe wird ausgehöhlt, ein Gesicht darin geschnitten und ein Lichtlein eingestellt, das zur beginnenden Dunkelheit festlichen Zauber entzünden soll. Von allen Seiten wandeln dann die Rüben zusammen und zeihen im Kreise um die erleuchtete Pyramide. Aus hellen Kehlen erschallen Lieder: "Guter Freund, ich frage dir," oder "O Bur, wat kost din Hei?" Nur hier und da lebt heute noch das lustige Kindertreiben. Anderswo ist es verunstaltet. Und an den meisten Orten ist es überhaupt nicht mehr.

Leider gehört das lustige Herbstspiel der Vergangenheit an. Kein Wunder, der Herbst wird nicht mehr erlebt. Oder wer kennt noch den deutschen Herbstwald? Ich meine nicht von einer einmaligen Wanderung her. Unsere Erntefeste und Erntespiele sind vergessen, weil unser Volk keine Ernte mehr hält. Ihm fehlt der Boden zur Ernte. Ohne Boden keine Erdverbundenheit. Sie wieder herzustellen, wenn auch in bescheidenem Maße, ist Neudeutschlands vornehmste Aufgabe. Schwache Versuche kennen wir ja: Wanderbewegung, Schulgarten, moderne Siedlung. Nur weiter so auf diesem Wege. Dann wird das deutsche Volksleben wieder neuen Inhalt bekommen. Beherzigen wir Wibbelts Worte, die mir eben der Westdeutsche Rundfunk aus Anlaß des 65. Geburtstages unseres Heimatdichters ans Ohr klingen läßt:

"En Stücksken Land, en kleinen Gaor'n,
en Baum, en Blomenpott:
dat is't - un wenn he't söwst nich wett -
wet jeder häbben mot."


Der Artikel von Karl Wessels erschien 1927 in den Gladbecker Blättern, Seite 78/79


letzte Änderung: 27.08.2008 Impressum - Datenschutz