Die Schule in Grafenwald war dann Anlass, konkret über eine Kapelle in Grafenwald nachzudenken und sie ins Werk zu setzen, weil man sich seelsorglich unterversorgt fühlte. Die Bevölkerung machte den Wunsch nach einer eigenen Gemeinde mit einer eigenen Kirche immer deutlicher geltend. Schon Pfarrer Bernhard Hermes, von 1869 - 1890 Pfarrer in Kirchhellen, hatte Gedanken geäußert, in Grafenwald eine selbstständige Filialgemeinde zu gründen.
Die Pfarrchronik 1924 berichtet darüber:
Palmsonntag des Jahres 1893 versammelte sich in der damaligen Gastwirtschaft Kreul (später Buschler, Schneiderstraße) eine Anzahl Leute aus dem Südteil der Bauerschaft Holthausen, um über den Bau einer Kirche zu beraten. Zeuge war auch ein Kaplan (Dahlmann) aus Kirchhellen, der mit regstem Interesse für eine Kirche in Grafenwald eintrat, wogegen andere diesem Projekt ziemlich abgeneigt waren.
Die Bemühungen um die Kirchengründung nahmen also zunächst nicht den Verlauf, den man sich in Grafenwald vorgestellt hatte. Schon vor dem Zustandekommen der ersten Versammlung kam es zu einem inneren Streit in der Pfarre. Ein Teil der Kirchhellener sah einen Konfliktherd. Sie befürchteten, dass eine ihrer Kaplaneistellen nach Grafenwald verlegt werden könne. Wenn dafür durch das Bistum keine Nachfolger bestellt würde, müsse als Folge die dritte h. Messe Sonntags und an Feiertagen in der Pfarrkirche Kirchhellen ausfallen.
Wie wir nachstehend noch lesen werden, wurde dieser Streitpunkt sogar zu einem Politikum in der zivilen Gemeinde.
Kaplan Dahlmann, der von Kirchhellen inzwischen nach Oeding versetzt war, berichtete auf Wunsch der bischöflichen Behörde ausführlich über die Situation in Grafenwald und das Projekt des Kapellenbaues in Holthausen bei Kirchhellen. Aus Oeding nimmt er Ende 1893 mit seiner Kenntnis als Kaplan in Kirchhellen Stellung zu den Befürchtungen der Kirchhellener Pfarrmitglieder und schreibt folgendes:
I. Für die Realisierung des Planes spricht zunächst die Lage. Diese Bauerschaft liegt am weitesten entfernt von jeder Kirche. Der weitest wohnende Landwirt Klüsener wohnt von der Kirche in Sterkrade, wie auch in Kirchhellen, ca. 1 1/2 Stunde entfernt. Die von Dorsten nach Sterkrade führende Chaussee geht nur an einer Seite durch diese Bauerschaft. Die Wege sind also lose Sandwege und sehr beschwerlich, so dass ältere Leute diese Wege beim besten Willen kaum zurücklegen können.
Sodann ist diese Bauerschaft am meisten bewohnt von allen Bauerschaften, weil sie den Industrieorten Gladbeck, Bottrop, Osterfeld, Buer und Sterkrade am nächsten liegt und die örtlichen Verhältnisse für den Bau neuer Häuser hier am günstigsten sind. Eben deshalb wird die Vergrößerung Kirchhellens gerade dort in Holthausen Grafenwald sich vollziehen, wie die Erfahrung der letzten 20 Jahre lehrt.
Die in Grafenwald gelegene Schule ist deshalb auch immerfort noch überfüllt und konnte durch die vor zwei Jahren erbaute Schule Holthausen (sie stand an der Ecke Bottroper Straße / Hiesfelder Straße und ist inzwischen abgebrochen) auch noch nicht genügend entlastet werden, obwohl Kinder aus dem Schulbezirk Grafenwald (dem Bereich Sensenfeld / Lehmschlenke) zur Schule Holthausen gezogen worden sind. Die Schülerzahl wird noch heute 100 sein.
Die Bevölkerung gehört vollständig dem Arbeiterstand an. Von den Familienvätern arbeiten einige an der Zubereitung des Grubenholzes. Dagegen gehen die meisten Familienväter und alle jüngeren, wenn Arbeiter, zur Arbeit in den Kohlengruben oder Eisenfabriken nach Gladbeck, Bottrop, Buer, Osterfeld und Sterkrade, weil es in Kirchhellen jetzt noch keine Kohlengruben gibt. Alle diese Arbeiter haben Wege zu machen, die etwa 1 1/2 bis 2 Stunden lang sind, ehe sie zur Arbeit kommen. Und mit welcher Beschwerde ist für sie die Anhörung der hl. Messe und die Beiwohnung der Gottesdienste in der Kirche verbunden an den Sonntagen, wenn sie 1/1 bis 1 1/4 von der Kirche entfernt wohnen.
Freilich besucht der eingeborene ansässige Arbeiter trotz aller Strapazen die hl. Messe und nach Kräften auch den übrigen Gottesdienst. Er ist noch religiös. Aber die Erfahrung zeigt, dass die fremden, zugezogenen Familien die Beschwerden des Besuches der sonntäglichen h. Messe und der sonstigen Andachten einfach gar nicht auf sich nehmen und von der Kirche fernbleiben, wochen- oder monatelang mit der Behauptung, sie konnten die weiten Wege nicht machen. Ich rede aus Erfahrung! Wie erschweren die langen Wege erst die Krankenseelsorge, die Seelsorge an den alten Leuten, den Unterricht in der Schule?
Nimmt man dieses alles zusammen, so möchte man herzlich wünschen, dass recht bald dort, inmitten der Arbeiterfamilien in Holthausen, etwa in der Nähe der jetzigen Schule in Grafenwald, eine Kapelle entstünde, und dass ein Seelsorger dort Tag und Nach weile, zur besseren und erfolgreichen Pastoration (seelsorgliche Betreuung) dieser braven Arbeiter.
II. Den Grund und Boden für die Kapelle und für die Wohnung des Geistlichen würden die Leute schon hergeben und auch für den Bau selbst sorgen können, namentlich wenn die besser situierten Bewohner der anderen Bauerschaften von Kirchhellen ihnen helfen. Und das werden diese tun, wenn ihnen das in geeigneter Weise ans Herz gelegt würde. Wenn z. B. der zeitige Herr Kaplan Heinrichs in Kirchhellen oder der Herr Vikar Rodenberg in Feldhausen sich an der Spitze dieses Unternehmens stellen darf.
Der Schwerpunkt des Unternehmens in der ganzen Angelegenheit ist der Unterhalt des Geistlichen und da ist, so meine ich, ein Ausweg nicht allzu schwer. Wenn der Teil von Holthausen Grafenwald von der Kapelle bedient wird, könnte der dritte Geistliche aus dem Dorf Kirchhellen nach Grafenwald übersiedeln, ohne aufzuhören, Vikar in Kirchhellen zu sein.
Die Interessenten des Kapellenbaus waren wie Kaplan Dahlmann der Meinung, dass die Ausführung dieses Planes bei gutem Willen und ausharrender Opferfreudigkeit durchaus möglich sei.
Vor diesem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen wurde Anfang des Jahres 1894 der bischöflichen Behörde der Plan für eine Kirchengründung aus der Sicht der projektierten Kapellengemeinde Grafenwald erneut schriftlich vorgetragen. Schwerpunkt des Schreibens war die Dringlichkeit des Kapellenbaues und Vorschläge zur Finanzierung der Baukosten und zum Unterhalt des Ortsgeistlichen. Eingebunden war ein Antrag auf Bewilligung einer Kollekte im Dom zu Münster.
Die Eingabe wurde unterzeichnet von dem Kaufmann Franz May aus Grafenwald sowie den Herren Johann Bußmann und Johann Umberg aus Kirchhellen. Sie schließt mit den Worten:
Und nun hoffen wir zuversichtlich, dass Gott unsere Bemühungen, welche im Interesse des Seelenheils der dortigen (Grafenwälder) Leute und der Erziehung der Kinder unternommen sind, segnen und das hochwürdige Bischöfliche Generalvikariat die Sache zu Gunsten der fast verlassenen Leute entscheiden werden.
Auf schriftliche Anfragen antwortete in dieser Sache Pfarrer Dr. Anton Lohmann dem Bischöflichen Generalvikariat in vielen umfangreichen Briefen. Nachstehend einige Zitate aus diesen Briefen:
Ziemlich genau im Mittelpunkt der hiesigen Gemeinde liegt die Pfarrkirche. Von derselben bleibt die Grenze der Gemeinde überall eine Stunde oder fünf Viertelstunden entfernt; bloß im Südosten beträgt die Entfernung nur eine halbe Stunde. Es liegt also der Gedanke nahe, in Grafenwald, südlich von der Pfarrkirche, eine Kapelle zu erbauen.
Der jetzt noch im Dorfe wohnende Kaufmann Franz May hat in Grafenwald einen Grundbesitz von 300 Morgen und beabsichtigt, seinen Wohnsicht nach dort zu verlegen. Vor 1 1/2 Jahren machte der genannte Kaufmann mir Mitteilung, es bestehe der Plan, für die Erbauung einer Kapelle in Grafenwald Geldsammlungen zu veranstalten. Diesen Plan habe ich gebilligt und kurz darauf G. (=Gutsbesitzer) May, in Gegenwart des damaligen Kaplan Dahlmann, Statuten diktiert, für einen zu gründenden Kapellenbauverein. Hierbei wurde die Absicht ausgesprochen, dass Geldsammlungen sich nicht bloß auf Grafenwald beschränken sollten; man hoffte vielmehr, die ganze Gemeinde für die Sache gewinnen zu können.
Bevor die Pläne zur Ausführung gekommen waren, verbreitete sich in der Gemeinde die Kunde, es solle im Kapellenbauverein von vornherein festgestellt werden:
1. die Kapelle soll erbaut werden auf der Besitzung Franz May,
2. eine Kaplanei soll von der Pfarrkirche nach Grafenwald verlegt werden.
Durch die Aufstellung und Veröffentlichung, besonders des zweiten Punktes haben G. May und seine Berater ihrem Objekt, eine Kapelle zu bauen, sehr geschadet und zwar bei vielen - wenn ich nicht irre - bei dem weitaus größten Teil der Gemeinde. Denn im Dorfe, sowie in den westlichen, nördlichen und östlich von demselben liegenden Bauerschaften wurde geäußert, dass man nicht geneigt sei, Gelder beizutragen, zur Verwirklichung eines Planes, wonach ein Geistlicher von der Pfarrkirche weggenommen werden soll.
Bei mir wurden verschiedene Anträge gestellt. Von einer Seite wurde ich aufgefordert, den Kapellenbauverein von der Kanzel der ganzen Gemeinde zu empfehlen oder doch die Geldsammlung zu organisieren. Von anderer Seite wurden entgegengesetzte Anträge gestellt. So z. B. erklärte mir ein Mitglied des Kirchenvorstandes: "Wir müssen unverzüglich den Bestrebungen des G. May und Genossen entgegentreten, sonst werden Pläne verwirklicht, welche für die ganze Gemeinde verderblich sind".
Wenn auch die Atmosphäre über den ganzen Pfarrbezirk hinweg noch nicht die rechte Zusammenarbeit aufkommen ließ, setzten die Bewohner von Grafenwald nun, nachdem das Generalvikariat Kenntnis von dem Vorhaben hatte, weiter alles daran, auch die Voraussetzungen dafür zu schaffen, bald eine eigene Kapelle bauen zu können.
Seit 1893 traf sich jährlich am Palmsonntag die dörfliche Gemeinschaft zum Austausch von Informationen und zur gemeinsamen Überlegung für den Kapellenbau. 1894 wurden monatliche Geldsammlungen unter den Bewohnern von Grafenwald beschlossen. 1895 wurde der "Kapellenbauverein" gegründet. Von der Versammlung wurden 12 Einwohner Grafenwalds in den Vorstand gewählt. Diese Gewählten haben es auch übernommen, von sofort an in den letzten Tagen eines jeden Monats, eine Hauskollekte unter den Interessierten abzuhalten.
Seit 1893 waren bereits über 3.000 Mark durch gelegentliche Sammlungen eingekommen.
Die Chronik sagt:
Die Einwohner waren guten Willens, freudig trug jeder sein Scherflein bei, wenn der Sammler anklopfte.
Der Kapellenbauverein führte nach Rückfrage und der Einwilligung des Pfarrers Dr. Lohmann und des Bischöflichen Generalvikariats in der ganzen Pfarre Kirchhellen eine Sammlung durch. Es wurden insgesamt 14.605,10 Mark gezeichnet. Die Summe war von 447, davon 98 Familien die sich zur projektierten Kapellengemeinde Grafenwald rechneten, erbracht. Der Betrag war mit folgenden Fälligkeiten versprochen: die erste Rate bei oder nach der Grundsteinlegung, die zweite Rate, wenn der Bau bis zum Dach ausgeführt sei und die Dritte bei Vollendung des äußeren Baues der Kapelle.
Der Kapellenbauverein hatte eine Ausfertigung der Sammelliste mit Anmerkungen über den Verlauf der Sammlung dem Bischof in Münster übersandt. Gleichzeitig wurde darum gebeten, dem Kaplan Heinrichs von Kirchhellen die Erlaubnis für eine Mitarbeit im Kapellenbauverein zu erteilen. Der Bischof war sicherlich beeindruckt vom guten Ergebnis der Sammlung. Am 10.1.1896, wenige Tage nach Vorlage, hatte das Bischöfliche Generalvikariat die Unterlagen Pfarrer Dr. Lohmann zurückgesandt, mit der Bitte, zur gefälligen Rückäußerung darüber, ob es nunmehr angezeigt erscheint, dem fraglichen Kapellenbau näher zu treten und der am Schlusse des vorstehenden Schreibens ausgesprochenen Bitte (über die Mitarbeit von Kaplan Heinrichs) zu entsprechen.
Pfarrer Dr. Lohmann antwortete dem Bischof am 18.02.1896 und stellte viele der Anmerkungen zur Sammelliste in Frage. Für die angegebenen Entfernungen von 3/4 Stunde bis 1 1/2 Stunden Fußweg von Grafenwald bis Ortsmitte hatte er eigens eine Zeichnung angefertigt und eine Straßenkarte beigefügt. In der Erwiderung des bischöflichen Schreibens ging es ihm in der Hauptsache um den Erhalt aller Kaplaneistellen in Kirchhellen.
Hier einige Zitate aus der o.a. Stellungnahme:
Durch die Erbauung der Kapelle wird meines Erachtens der Besuch der Pfarrkirche nicht in dem Grade vermindert, dass einer der beiden Kapläne entbehrlich würde, wie ein Plan, welcher von Herrn May früher angeregt ist und an dem noch festgehalten wird.
... manche Bewohner, die zwischen der zu erwartenden Waldkapelle und der Pfarrkirche annähernd in der Mitte wohnen, werden aus dem Grunde einen weiteren Weg zur Pfarrkirche wählen, weil das Dorf mit den Geschäftshäusern und der Nähe des Bahnhofs einen Vorrang behalten werde vor der Bauerschaft Grafenwald.
... dass es mehr als vier Personen sind, wie vom Kapellenbauverein angegeben, die ihre Beiträge von der gedachten Bedingung der Beibehaltung der 2. Kaplans ausdrücklich abhängig gemacht haben, aber in der Sammelliste aus solche aufgeführt sind, die ein bedingungsloses Versprechen abgegeben haben. Die Widersprüche möchte ich nicht als bewusste Unwahrheiten, sondern als Missverständnisse ansehen, welche besonders aus dem Grunde möglich waren, weil die gedachten Wohltäter nicht selbst ihre Namen und die in Aussicht gestellten Gaben in die Liste eingetragen haben. Das besorgten vielmehr diejenigen, welche für den Kapellenbau Rundgang machten.
Dennoch halte ich die Erbauung der projektierten Kapelle für wünschenswert. Auch der in Aussicht genommene Bauplatz ist gut gewählt. Ich werde persönlich gerne tätig sein, um den Kapellenbau zu befördern.
Der Bischof bedankte sich für den ausführlichen Bericht, nicht minder auch für die Bereitwilligkeit des Pfarrers Dr. Lohmann, den Kapellenbau nach Kräften persönlich fördern zu wollen. Er hielt es in dem Dankschreiben für zweckmäßig, dass der Vorsitzende des Kapellenbauvereins ein Geistlicher sei und bat, wie beantragt, Kaplan Heinrichs mit der Leitung zu beauftragen. Mit Rückgabe der Sammelliste sprach der Bischof dem Kapellenverein Anerkennung für das bisherige eifrige Streben und die besten Wünsche für einen glücklichen Erfolg aus.
Im Jahr 1896, beim jährlichen Treff am Palmsonntag, stand Kaplan Heinrichs erstmals der Versammlung vor. Er ermahnte die Erschienenen zur Ruhe und Besonnenheit und sagte weiter, dass in 1896 leider mit dem Bau noch nicht begonnen werden könne. Es seien noch zu viele Formalitäten zu erledigen. Einige erforderliche Beschlüsse der kirchlichen Organe der Pfarre Kirchhellen verzögerten den Fortgang des Baugenehmigungsverfahrens. Als Folge stünden die erforderliche Staatsgenehmigung und die Zusage der bischöflichen Behörde noch aus. Die Anwesenden gaben sich aber zuversichtlich, dass sie jetzt, nachdem Kaplan Heinrichs an der Spitze des Kapellenbauvereins tätig werden könne, noch besser zum Ziele kämen.
Für die Finanzierung der zu erwartenden Baukosten für die Kapelle und das Wohnhaus (für den künftigen Geistlichen) stand mittlerweile ein Baufonds von 20.000 Mark aus Sammlungen und Spenden zur Verfügung. Von Franz May war das Grundstück für die geplanten Vorhaben dem Kapellenbauverein zur Verfügung gestellt. Sämtliche anfallenden Kosten für das Grundstück wurden von ihm getragen.
Dazu war das Baukomitee der Meinung, dass durch den Beginn des Baues die Opferwilligkeit der Leute nur noch mehr gehoben werde. Sollte eine Restschuld bleiben, so hat sich Herr May erboten, nötigenfalls dafür die Bürgschaft zu übernehmen.
entnommen aus: Johannes Lanfermann: 100 Jahre Kirche Grafenwald, 1999
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