An BSE hat damals kein Mensch gedacht. Gab es auch gar nicht. Die Rinder waren kerngesund. Weder verseucht durch Antibiotika noch hirngeschädigt durch Kannibalismus.
Tagsüber war das Rindvieh auf der Weide. Auch in Kirchhellen. Nur zur Nacht trieben die Bauern ihre Vierbeiner in den Stall. Denn sonst konnte es passieren, dass über Nacht das liebe Vieh der plötzliche Rindstod ereilte.
Den verursachten Schwarzschlächter der besonderen Art. Männer, die entweder vom Hunger getrieben alles auf eine Karte setzten, dabei Gefahr liefen, erwischt zu werden und bestenfalls ins Gefängnis zu wandern, oder auch schlichtweg Kriminelle.
Hans Söller aus Kirchhellen gehörte jedoch weder zu der einen noch zu der anderen Sorte. Der Rind- und Schweinemetzger hatte sein Metier von 1915 bis 1918 in der Metzgerei Buchholz in Sterkrade erlernt und seine Gesellen-Prüfung mit gut bestanden. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es für Metzger nicht viel zu schlachten. Hans Söller arbeitete auf der Zeche. Bergleute bekamen Schwerstarbeiter-Zulage und vor allem Deputat-Kohle. Sie war damals Gold wert.
Seinen eigentlich erlernten Beruf hat Hans Söller jedoch nicht vergessen. Genau in jener Zeit verschwand denn auch das eine oder andere Rind, wurde als gestohlen gemeldet, der angebliche Dieb jedoch nie gefunden. So manches Rindvieh und so manches Schwein war auch gar nicht behördlich registriert, hielt sich sozusagen schon schwarz in den Stallungen auf. Verschwanden diese Viecher plötzlich auf ungeklärte Weise, wusste zwar jeder, wo sie geblieben waren, gesprochen wurde darüber nur hinter vorgehaltener Hand. In Kirchhellen flüsterte man sich dann zu: "Dor is wier eene ohne Sakramente gestorwen."
Schwarzschlachtung war nicht einfach ein heimlicher Sport. Die Menschen auf dem Lande schlachteten ohne Erlaubnis, um einfach zu überleben. Heinrich Ladzinski aus Grafenwald grub jetzt eine Geschichte aus jener Zeit aus, die bezeichnend ist für die typische Bauernschläue, die in Kirchhellen entwickelt wurde. Hauptakteur war eben jener 1899 geborene Hans Söller. Auch er besann sich in der Nachkriegszeit gelegentlich auf seinen erlernten Beruf und half den Nachbarn, wenn es darum ging, Nahrhaftes in die Töpfe zu bekommen.
Freilich gab es auch Neider. Und irgendwann wurde Hans Söller vor den Kadi zitiert. Ihm war der Ankläger vor, ein Schwein ohne amtliche Genehmigung geschlachtet zu haben. Hans Söller aber verteidigte sich, er habe ein Ferkel geschlachtet, das krank gewesen sei und einfach nicht wuchs. Es sei so klein geblieben, dass es, obwohl schon sieben Monate alt, noch immer zusammen mit den Hühnern durch deren klitzekleines Schlupfloch passte und mit ihnen in den Stall kroch. Es sei eine reine Notschlachtung gewesen.
Von dieser Vorstellung überzeugt, sprach der Richter den Angeklagten frei. Als Hans Söller das Gerichtsgebäude verließ, sprach er schmunzelnd zu sich selbst: "Ein Ferkel war's schon, aber es wog vier Zentner." Für die Kirchhellener galt damals halt der Wahlspruch: "Besser ohne Schein als ohne Schwein."
Das bezog sich gelegentlich auch auf eine ausgewachsene Kuh. Denn abermals wurde Hans Söller vor den Richter zitiert. Diesmal soll er eine Kuh im Keller geschlachtet haben. Der gewitzte Kirchhellener verteidigte sich: "Es ist gar nicht möglich, eine Kuh in meinen Keller zu bekommen. Die Treppe ist viel zu steil."
Ein Ortstermin bestätigte seine Aussage. Das Gericht gelangte zu der Überzeugung, es sei unmöglich, über diese Treppe eine Kuh in den Keller zu bugsieren. Hans Söller wurde abermals frei gesprochen. Seinen zuverlässigen Freunden freilich verriet er den Trick: "Sie ging hinunter wie der Hirsch zur Wasserquelle - rückwärts."
Nach der Währung, als sich die Zeiten normalisierten, fuhr Hans Söller als Hausschlachter zunächst mit seinem Fahrrad, später mit Pferd und Wagen durch Kirchhellen. Zusätzlich betrieb er mit Frau und Töchtern in den 50-er Jahren in Grafenwald eine Gaststätte.
Alte Kirchhellner erinnern sich an Hans Söller und an die Zeit des Schwarzschlachtens: "Ein bescheidener Mann, nie stolz, aber stets hilfsbereit." Wie viel nicht registrierte Schweine während der ersten Nachkriegsjahre bei Hans Söller über die Klinge sprangen und wie viele Rinder, darüber freilich gibt es keine Aufzeichnungen. Nur Hans Söller selbst konnte es wissen. Und er nahm sein Wissen 1984 mit ins Grab.
Dieser Zeitungsartikel aus dem Stadtspiegel wurde von Familie Knipping zur Verfügung gestellt.
zur Startseite | letzte Änderung: 16.12.2008 | Impressum - Datenschutz |