Wegbeschreibung 1930

 

Durch die Hohe Heide und Grafenwald nach Forsthaus Specht.

Dr. Bette.

Am Gladbecker Rathaus beginne unsere Wanderung! Die Rentforterstraße führt uns nach der Kirchhellenerstraße, von der aus unser Auge zunächst die älteste, deshalb weniger vorteilhafte Kolonie der Möllerschächte, sodann breite Ackerfluren, saftige Wiesen, vereinzelte Wälder und alte Bauerngehöfte schaut. Zur Rechten Wüllentorp (Wolvelinctorpe = Siedlung des Wölflings), Forststraße 99, Niermann, Kreuzstraße 23, Tenbusch, Lohstraße 135, Kuhlmann, früher Tiems = Tembusch, Hagentraße 13, Uchtmann, heute E. Kuhlmann, Lemm, heute R. Eikemper, zur Linken Böckler (heute Eigentum der Stadt), Peuling, Mai gen. Heimann, Sump und Quäling. Manche Höfe sind verschwunden oder gänzlich umgestaltet: Paßmann, heute Städt. Fuhrpark, Schulte Rebbelmund (heute Kasino Schultenhof), vgl. Schulten- und Rebbelmundstraße), Wiethege (jetzt Eigentum der Bergwerks-A.G., Lohstraße 9), Steinmann (Haus 1899 abgebrochen, der Boden gehört dem Rittergutspächter Steinmann auf Haus Brabeck). Die Kirchhellenerstraße ist erst im Jahre 1900 gebaut, die Straßenbahn 1930 eröffnet.

Nach einer Wanderung von 40 Minuten gelangt man an die neue Ueberführung der Eisenbahnstrecke Oberhausen-Rheine-Quakenbrück, die 1879 eröffnet wurde. Der zu ihr gehörende Bahnhof Kirchhellen lag ursprünglich drei Kilometer vom Dorfe entfernt unweit von Haus Brabeck1) auf Gladbecker Gebiet und ist erst 1888 an die heutige Stelle verlegt worden. Hinter der Ueberführung, gegenüber dem Gehöft Möhlen, kommt man an der Wirtschaft Riesener (früher Otte) vorbei in die Hohe Heide, die ein Landweg in südwestlicher Richtung bis zur Provinzialstraße von Sterkrade über Kirchhellen nach Dorsten durchschneidet. Links und rechts des Weges grüßen größere und kleinere Bauern- und Kötterhäuser: rechts Dierichs, Weiß, Fahnenbrauck (Töfflinger) und Liesenklas, links Büsken.

Nach Süden führt ein Waldweg in das "Burenbrauck" (Brauck oder Bruch = sumpfiges Gelände), das zum Teil zur Gemeinde Kirchhellen, zum Teil zur Gemeinde Gladbeck gehört und rund 1500 Morgen umfasst. Hier trieb der Werwolf (Warwulf) sein Unwesen; hier mußte der "grote Jann" mit seinen zu Unrecht verschobenen Grenzsteinen unter dem Rufe: "Waoh sack em laoten?" bis zur Erlösung unstet wandern. Hier sagten sich Füchse, Marder und Uelke (Iltisse) gute Nacht; hier machten die Hasen ihre "Mätzchen", und er Schnepfenstrich soll hervorragend gewesen sein. Im Burenbrock fristeten bis vor 100 Jahren noch die Emscherbrücher Wildpferde ihr freies Dasein. Das letzte von ihnen hat beim Kötter Werner Brinkert, jetzt Eulering in Grafenwald das Gnadenbrot erhalten. Hier konnte noch vor sechzig Jahren der Vogelsteller dem Fang von Krammetsvögeln nachgehen. In der Zeit um 1835 ist das Burenbrock - wie alle Kirchhellener Gemeinheiten - aufgeteilt worden. Da das Gelände stark unter zu großer Feuchtigkeit und infolgedessen unter ungünstigem Klima litte, bildete sich 1923 die Wassergenossenschaft "Burenbruch", die in den Jahren 1924-26 unter einem Kostenaufwande von 215 000 Mark das Gebiet entwässern ließ.2)

Die Straße Sterkrade-Kirchhellen-Dorsten, die zuvor als "Alter Postweg" (Fahrpoststrecke Bonn-Köln-Dorsten-Münster) durch die Bauerschaften Grafenwald und Holthausen verlief, ist 1833 über das Dorf verlegt und 1846/47 ausgebaut worden. Ueberquert man diese Straße, so kommt man in die Bauerschaft Holthausen und nach wenigen Minuten in den Ortsteil Grafenwald.

Dieser hieß früher Junkern oder Vossundern (Sundern = abgesondertes Gebiet). Die erste geschichtliche Nachricht, die den Distrikt Grafenwald angeht, stammt aus dem Jahre 1240: Konrad von Hillen verkaufte das Gut in Deffte ("praedium in Deffte), das ein Eigentum seiner Familie war, an die Aebtissin Reginwid von Düssern (bei Duisburg). Diese errichtete darauf einige Jahre später mit Erlaubnis des Erzbischofs von Köln ein Zisterzienserinnenkloster, das nach einem Bächlein "Rivulus beatae Mariae virginis" genannt wurde, 1255 als ansehnliche Schenkung das Patronat der Kirche in Sterkrade, eine Mühlenstätte und einen Fischteich erhielt und um 1260 nach Sterkrade verlegt wurde. Sein Besitz in Kirchhellen vermehrte sich jedoch noch; so verkauften die Söhne Rudolfs von Wittringen 1287 dem Kloster zwei weitere hier gelegene Höfe. Auch der Kirchhellener Zehnte blieb ihm, bis er 1745 an Haus Beck verkauft wurde. Der Volksmund in Grafenwald spricht noch heute vom "Zensenkloster" oder Kloster "Zens" (vielleicht von Zisterzienser) Das Kloster stand auf dem alten Hofe Deffte (heute Wieschermann), unweit der Kirche. Bis in die Gegenwart tragen noch zwei Flurstücke dieses Hofes die Namen Santen (heiligen) Kamp und Santen Heide.

Das 1033 Morgen große Junkeren- oder Vossessundern war ein Lehngut der Abtei Werden, das zu Dienstmannsrechten ausgetan wurde. Zu ihm gehörten außer dem Gehölze nebst Gras- und Heidegründen auch die Höfe Heymath (bona gerhardt et conradi de defte) und Stratmann. 1756 wurde einer der beiden zum Hause Hove gehörenden Mühlen nach dem Vossondern verlegt. 1800 dort auch eine Ziegelei errichtet. Zu Anfang des 15. Jahrhunders hatte Goswin von Stecke das Lehen unter, von 1480 bis 1640 die gräfliche Familie von Holstein-Schaumburg, die damals auch Haus Schlangenholt (Bottrop) besaß; 1640 wurde Berhard Dobbe zu Lier, 1642 Graf Hermann Otto von Limburg-Styrum, seit 1644 die gräfliche Familie von Velen belehnt. Als 1705 nach dem Tode des Grafen Ferdinand von Velen das Gut dem Stifte Werden heimgefallen war, wurde es gegen Verzichtleistung auf das ihr zustehende Pfandrecht am Hause Hove (Osterfeld) an die verwitwete Freifrau Johanna Maria von Quadt zu Kreuzberg geborene von Hove übertragen, 1720 mit demselben ihr zweiter Gemahl Peter Otto von Hove belehnt. Da dieser ohne Nachkommen war, ließ sich 1729 Johann Hermann Franz von Nesselrode die Anwartschaft übertragen, trat diese aber schon 1733 mit Zustimmung der Werdenschen Lehnskammer an seinen Schwager Ferdinand Dietrich Graf von Merveldt zu Lembeck, den Besitzer der benachbarten Güter Hove und Schlangenholt, ab; nach dem Tode des Peter Otto erfolgte 1737 die Belehnung. 1830 ist das Vossondern, das 1809 freies Eigentum geworden war, nebst der Mühle und allen zugehörigen Pachtgütern von dem Grafen Merveldt an den Gutsbesitzer Bernhard Averbeck zu Bottrop, von diesem zwei Jahre später an andere verkauft worden. Die Aufteilung des Markengrunden, die 1824 verfügt wurde, kam 1843 zum Abschlusse. Seit 1902 ist die Gewerkschaft Thyssen im Besitze. 3)

Grafenwald lag jahrhundertelang fernab vom Verkehr, abgeschieden hinter Wald und Sumpf, so daß auf seinem Boden sich wenig geschichtlich denkwürdige Ereignisse abgespielt haben. Was der Reisende auf dem alten Postwege von Dorsten nach Mülheim von Grafenwald sah, war nichts als Wald und Heide, hier und da ein Häuschen aus Fachwerk mit Strohdach, das aus der Lichtung auftauchte, und was er in den Schenken hörte, war von so geringer Wichtigkeit, daß es schon vergessen war, wenn der den letzten Schnadstein hinter Klusener passiert hatte; es sei denn, daß es ein Räuberabenteuer war, das sich mal wieder dort in der einsamen Gegend abgespielt hatte. Nach dem 30jährigen und 7jährigen Kriege trieben sich nämlich große, organisierte Räuberbanden am Niederrhein umher, die es hauptsachlich auf Reisende und Postwagen abgesehen hatten, und es ist nicht anzunehmen, daß sie ihre Tätigkeit auf rheinisches Gebiet beschränkten, sie werden vielmehr auch den nahen alten Postweg "bewacht" haben. Auch Kriegsvolk der verschiedenen Nationen wird Schrechen vor sich herbreitend dieses Weges gezogen sein. Mit manchen anderen Gütern konnte auch das Gut Defth jahrelang keine Pacht an das Kloster Sterkrade entrichten wegen der Bandschatzungen durch die wilde Soldateska. In der Geschichte des Klosters Sterkrade wird dieser Hof noch mehrere Male erwähnt. Am 14. August 1627 erhielt das Kloster den Defften-Wald zum Geschenk von Elis. von den Capellen, einer Verwandten der Aebtissin Anna Maria von den Capellen (Sie stammte vom Hause Wittringen.) Das Kloster ließ den Wald durch einen Förster beaufsichtigen, der aber durch Diebstahl von Holz und Begünstigung das Vertrauen mißbrauchte. Aus den Akten des Klosters geht hervor, daß eine ganze Anzahl von Kirchhellener Leuten sich an dem Holzdiebstahl mit Pferd und Wagen beteiligten. Der ungetreur Förster legte in Gegenwart des Küsters vor der Aebtissin ein Geständnis ab. Auf dem Deffte-Hof hielt das Kloster auch eine Schafherde. Im Jahre 1670 wurden 41 Schafe dorthin geschickt zur Weide. Diese Herde hatte sich aber nach zwei Jahren nicht nur nicht vermehrt, sondern war noch kleiner geworden; es waren nur mehr 36 Schafe vorhanden und 4 Lämmer. Das Kloster traute der Sache nicht und schickte die Defthesche Herde anderswohin.

Auch in den ausgedehnten Waldungen Grafenwald steiften noch im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts zahlreiche Wildpferde; im früheren Kaspers Kotten hatten sie einen Unterstall, wo ihnen bei allzu strengem Winter Raubfutter ausgelegt wurde. Der waldreiche Charakter der Gegend hat sich bis zum heutigen Tage ziemlich erhalten, wenn auch viele Neukulturen geschaffen wurden und leider auch manche Abholzungen stattfanden.

Im Bezirk Grafenwald hatte sich in den letzten Jahrzehnten des verflossenen Jahrhunderts eine ganze Anzahl Menschen - Einheimische und Fremde - angesiedelt, die auf den benachbarten Zechen Arbeit fanden. Der Bau von Geschäftshäusern und die Niederlassung von Handwerkern folgten. Diese Zunahme der Bevölkerung gab den Gedanken der Errichtung eines eigenen Gotteshauses in Grafenwald neue Nahrung.4)

Es wurde in den Jahren 1898/99 errichtet. 1919 wurde die Gemeinde zu einer selbstständigen Pfarre erhoben. Die Kirche ist der Heiligen Familie geweiht. Der Pfarrbezirk umfaßt nicht allein das ehemalige Junkerensundern, sondern auch den Süden der Bauerschaft Holthausen. 1876 erhielt Grafenwald eine Schule.

Von der Kirche aus gelangt man in einer Viertelstunde nach Grafenmühle. Wasserhühnchen schwimmen auf dem Teiche. Das Mühlrad ist freilich stumm geworden; eine Turbine dreht heute den Stein.

Während des Weltkrieges begann die Firma Thyssen in Grafenwald mit dem Abteufen einer Zeche ("Nordlicht"); die Arbeiten sind aber bald eingestellt worden.

Auf einem Waldwege geht man in östlicher Richtung zurück bis Bornemann an der Provinzialstraße Sterkrade-Kirchhellen-Dorsten und gelangt von dort bald nach dem Forsthaus Specht, das auf Bottroper Gebiet liegt. Nach Westen hin erstreckt sich der 1900 Morgen große Fernewald, vormals dem Stifte Essen, seit 1803 dem preußischen Staate gehörend, und der 1194 Morgen große Bischofssundern oder Köllnische Wald, der als kürkölnischer Besitz 1803 an den Herzog von Arenberg gekommen ist, heute zum Teil der Gutehoffnungshütte in Sterkrade, zum Teil, wie auch das angrenzende Vöingsholz, der Stadt Bottrop gehört.

In 20 Minuten erreicht man die Haltestelle der Straßenbahn Bottrop-Gladbeck an der Stenkhoffstraße und fährt heim.

1) Haus Brabeck wird ein späterer Aufsatz behandeln
2) Hambloch, Die seit 1925 im Vest ausgeführten genossenschaftlichen Bodenverbesserungen, "Gl. Blätter" 1929, S. 57. - J. Eggendorf, Im Burenbrauck. "Gladb. Ztg." vom 10.1.1928.
3) Weskamp-Körner, Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Recklinghausen. S. 352 - Fleitmann, Die Belehnung mit dem Junkeren-Sundern im Jahre 1809. "Gl. Blätter" XI., S. 63 ff, 69 ff. - Wessels, Das Zisterzienserinnenkloster zu Deffte, Vest. Zeitschrift 35. S. 310 ff.
4) Festschrift zum 25jährigen Jubiläum der Kirche in Grafenwald. 26. Oktober 1924.


Der Artikel erschien 1930 in den Gladbecker Blättern, Seite 93-95

letzte Änderung: 30.08.2008 Impressum - Datenschutz