Karl Wessels: "Der Berggeist an der Wasserscheide"

Seit vielen, vielen Jahren wohnt der Berggeist in seinem Dunkelreich, wohl tausend Fuß tief unter der Erde oder noch tiefer. Und weil die Stuben seiner Wohnung zum Greifen und Anstoßen niedrig sind, geht der Alte ganz gebückt. So krumm wie er selbst, so krumm ist auch sein Stab. Sein langer, weißer, wallender Bart reicht bis zu den großen Füßen. Wenn er ihm vom Lehm schmutziggelb oder von der Kohle schwarz geworden ist, bückt er sich zu einem der Wässerlein, die dort unten im Fließsande spielen, um spült ihn wieder rein. Dann geht der Alte seinen gewohnten Weg weiter, von einer Sandbank zur anderen, vom unteren Stockwerk zum oberen. Der Berggeist muss überall nach dem Rechten schauen. Sein Reich aber ist groß, sehr groß.

Nun kamen in einer dunklen Nacht die Wurzeln einer Eiche beim Berggeist zu Besuch. Beim ersten besten Wässerlein stellten sie sich zum Trinken ein und erzählten wundersame Geschichten von einer blühenden Welt, von einem grünen Wald und von einem blauen Himmelszelt. Der Berggeist aber, der gerade in einem unteren Stockwerk weiIte, hörte nicht von dem Geflüster und merkte nichts von dem Sehnen nach Licht, das bei jedem Wurzelwort in dem Wasser lebendig wurde. Die Würzelchen tranken lustig weiter und vergaßen das Erzählen. Als die Wässerlein noch mehr hören wollten, zeigt die Wurzeln nach oben und meinten: "Schaut selber nach!"

Jetzt waren die Gewässer 'ganz voll von dem Wunsche, bald nach oben zu kommen, die Lichterwelt zu sehen, die Sonne, den Mond und die Sterne. Ein Wässerlein, das besonders gut schwätzen konnte, wurde beim Berggeist vorstellig und bat um Urlaub für sich und die anderen. Der Alte aber, der nichts Schöneres als die Dunkelheit seines Reiches kannte, konnte den Wunsch seiner Wasserkinder nicht verstehen und wollte sie nicht ziehen lassen.

Da ersannen die Wässerlein eine List. Jedes mal, wenn der Berggeist zum Trinken oder zum Waschen sich zu ihnen neigte, zupften sie ihn an seinem Bart und flehten: "Lass uns ziehen, lass uns ziehen." Das wurde dem Alten zu bunt. Er nahm seinen Stock, öffnete die Türen und Fenster seines Hauses, und trieb die Wässerlein zum Erdreich hinaus.

Diese flohen nach allen Seiten, nur nicht nach unten. Sie stiegen höher und immer höher, dem Lichte zu. Oben angekommen, sprangen sie vor Freude und plätscherten vor Vergnügen. Doch die Freiheit wurde ihnen zum Zwang. Weil das Haus des Berggeistes als Wasserscheide zwischen ihnen stand konnten sie so schnell nicht wieder zusammen kommen.

So geschah es, dass die einen mit der Boye zur Emscher, die anderen mit dem Schölsbach zur Lippe und wieder andere mit dem Roten Bache suchend zum Rhein liefen. Vater Rhein nahm sie alle zusammen an seine Hand und führte sie eilends in das weite, weite Meer, die neugierigen Kinder aus dem Dunkelreich des Erdgeistes.


Der Artikel von Karl Wessels erschien 1931 im Vestischen Kalender auf Seite 98. Er wurde noch einmal abgedruckt im Heft 5 ("Alles über Grafenwald") der Schriftenreihe des Vereins für Orts- und Heimatkunde Kirchhellen


letzte Änderung: 21.05.2009 Impressum - Datenschutz