Karl Wessels: "Charfreitag 1922 - Frühlingstag in Grafenwald"

Ziemlich lange hat der Frühling in diesem Jahre auf sich warten lassen. Der Märzbrausewind verwehte. Im Kalender stand Frühlings Anfang, doch der Lenz kam nicht. Die Südländer hatten ihm immer wieder von der weiten Reise nach dem garstigkalten Deutschland abgeraten. Endlich machte er sich auf den Weg nach Norden. Sein Wegweiser war lichtes Frühlingsgewölk, von säuselnden Winden getragen. Glitzernde Sonnenstrahlen verkündeten des Frühlings Einzug auch im Industriegebiet. Hier ging er langsamer, Schritt für Schritt, Straße für Straße. Er wollte all die Menschenkinder sehen, die in harter Wintersnot aus ihn gewartet hatten. Sie alle wollte er trösten und mit sonnigen Frühlingsgaben beglücken.

Leider gab es für ihn auf dem Steinöden und Schlackenhalden kaum eine Gelegenheit, seine Frühlingskunst zu zeigen. So im Vorübergehen konnte er die braunen Zweiglein einer verkümmerten Hecke zum treibenden Leben anhauchen; einem altersschwachen Pfirsichbäumchen schenkte er noch einmal an die tausend Blüten in farbenfroher Pracht und die vereinsamten Grasbüschel am Wegrand beglückte er mit lichtgrünen Frühlingskleidern.

Zechenkohlenstaub und betäubender Maschinenlärm treiben den Frühling weiter nach Norden, in die Waldeinsamkeit, nach Grafenwald. Hier will er den stellen Charfreitag verbringen und sich auf Ostern vorbereiten. In aller Herrgottsfrühe überschreitet er den Spechtsbach, Frühlingsleuchten auf den Gesicht, Frühlingssonne verbreitend. Im weiten Himmelsblau jubelt die Lerche, und unten am Bach klingt und singt es auch. Stumm grüßt das Waldkirchlein den wandernden Frühling; sein Klingelingkang-Glöcklein ist nämlich auf der Romseise und muß bei all der Frühlingsfreude trauern und schweigen. Um so inniger aber bezeugen die Gotteskirchgänger dem Frühling Gruß und Dank. Sie bewundern den holden Knaben und sehen ihn auf stillen Waldwegen weiterwandeln. Die ersten Buschwindröschen begleiten ihn zu beiden Seiten, sie heben ihr weißes Köpfchen aus dem satten Grün hervor und nicken ihm zu. Der Frühlingsknabe aber kann des Anblicks nicht froh werden. Wohin er auch schaut, trockenes Holz, Windfall, dürres Laub und Gras ringsumher. Und noch mehr! Er sieht das zerrissene Waldkleid und viele, viele entblößte Stellen im Walde, und das Grausen packt ihn. Seine Hände legt er vor das bleiche Gesicht - die Sonne verbirgt ihren Glanz hinter einer Wolke - und er Frühling weint. Er weint seinen trauten Weggenossen, jedem Baum und jedem Strauch heiße Tränen nach. Die nahende Industrie ist schuld daran, daß sie gefallen sind. Ob der Traurigkeit versagen dem Frühlingsknaben die Füße. Sie verlangen Ruhe. Er geht den nächsten Weg in den Pöttering, um sich am Quell zu erholen. Doch er kommt nicht so weit. Ein neuer Schreck ist in seine Glieder gefahren. Er traut seinen Augen nicht. Es er hier seiht, ist doch nicht der Pöttering! Oder doch? Da stehen noch die alten Häuser, und dort die Pötteringsbecke kennt er auch noch. Also doch. Aber Feld und Busch sind nicht wiederzuerkennen, und erst das schwarze Ungetüm dort ... Der Frühling fährt langsam mit der Hand über seine hohe Stirn, sinnt nach und erinnert sich, auf seiner Reise durch die Industrie ähnliche Ungeheuer gesehen zu haben. Bohrturm nennen die Leute das Ding. Erst wird gebohrt, dann abgeteuft ... Zechen ... Kolonien ... im Pöttering, in Grafenwald? Der Frühling sinkt bei diesem Gedanken in die Knie, neigt seinen Kopf zur Erde und weint wieder ..., und helle Tauperlen glänzen im Morgensonnenschein. Dann hebt ein Raunen seltsamer Art an. Unser Sonnenkind beginnt mit der kleinen und kleinsten Grashalmen Zweisprache zu halten. Sie erzählen ihm wenig Gutes, viel mehr aber von ihrem Leid, das ihnen im langen Winter widerfahren ist. Viele von ihren Geschwistern liegen zertreten ab Boden. Ihnen kann auch der Frühling nicht mehr helfen. Nur die noch lebenden Kräuter, die eben Charfreitags Klagelieder singen, vermag er zu trösten. Wie sie noch klagen und sich gegenseitig anschaun, erstrahlen sie im schönsten Frühlingsgrün. doch nicht genug; denn bevor der Frühling sich vom Wiesengrund erhabt, schenkt er jedem Hälmchen eine funkelnde Tauperle zum Andenken.

Der Frühling aber, voll Freude über sein gelungenes Werk, steht auf, reckt und streckt sich, dreht dem Bohrturm den Rücken zu und will wandern. Da hört er in der Luft ein zartes Flöten und Piepsen. Es sind bekannte Stimmen. Geschwätzige Meisen suchen fragend den Frühling: "Ist er hier? Ist er hier?" Der Frühlingsknabe winkt und sogleich bekundet das kleine Volk helle Freude darüber, ihn endlich gefunden zu haben. Die Meisen zieren sich nicht. Sie setzen sich aus seine Schultern, hängen sich in seinen Kleidern fest und fangen an zu erzählen. Der erste: "Lieber Frühling, wie suchen schon lange nach einer Wohnung und können keine finden." Die zweite: "Die Wallhecke ist nicht mehr." Die dritte: "Der alte Kopfweidenbaum mit den vielen Höhlungen ist fort." Und die vierte endlich: "Ich habe auf Seesen Feld den Fuhrmann gesehen, der alles Holz weggefahren hat." Und alle stimmten mit ein: "O, wie trüb, wie trüb!" Der Frühling aber hatte schon Hilfe ersonnen. Er hatte in Grafenwald manches Haus und manchen Garten gesehen. Schneeglöckchen und Morgensterne hatten ihn begrüßt. Er hatte aber auch noch oben geschaut und am Giebel des Hauses und im alten Apfelbaum Nistkästen hängen sehen. "Darin findet ihr eine schöne Sommerwohnung, recht tief und mit einem runden Flugloch versehen. Was wollt ihr noch mehr?" Kaum hatte der Frühling ausgesprochen, da flogen die Meisen voller Freund auf und davon. Und als der zehnjährige Franz von der Kirche heimkam, waren die Meisen da und riefen: "Wir sind hier, sind hier! Danken dir, danken dir!"

Der Frühling aber geht zur Pötteringsquelle, trinkt aus der hohlen Hand und wandert weiter, und Ostern ist er nicht mehr in Grafenwald. Nach dem hundertjährigen Kalender darf er erst im Monat Mai wiederkommen.


Der Artikel von Karl Wessels erschien 1922 in den Gladbecker Blättern, Seite 39-40


letzte Änderung: 21.05.2009 Impressum - Datenschutz