Karl Wessels: "Sollen wir noch plattdeutsch sprechen?"

Sollen wir noch plattdeutsch sprechen?
Gedanken eines Hochdeutschen, der gern plattdeutsch spricht.

Die Frage "Sollen wir noch plattdeutsch sprechen?" kann nur im Zusammenhange betrachtet und gelöst werden. Das Plattdeutsche ist nämlich nicht für sich allein, sondern ist ein Teil niederdeutschen Volkstums, ein Binde- und Verständigungsmittel des niederdeutschen Verkehrs. Darum gehört es zum niederdeutschen Wesen, zum niederdeutschen Menschen, ist ein gar gewichtiger Teil desselben. An der Lösung der Frage nach der Notwendigkeit und Nützlichkeit des plattdeutschen Sprachgebrauchs sind also nicht nur die Volkskundler, Sprachwissenschaftlicher und Staatsmänner, letztere als Führer des Volkes, interessiert, sondern vor allem die Niederdeutschen selbst.

Beide, Sprache und Mensch, sind Abbilder der Landschaft, aus der sie hervorgegangen sind. Ändert sich die Landschaft, so ändern sich auch Sprache und Mensch. In Bezug auf die Sprache sollen das zwei Beispiele erläutern. Wer das Brüchtenwesen miterlebt hat, kennt auch noch manches Wort, sei es plattdeutsch, sei es hochdeutsch, das damit im Zusammenhange stand, dem sind noch Benennungen geläufig wie Heister, Schüttstall, Eichelmast, Liechtstelle, Amenkasse, Landreuter, Scheffe, Burbotte u. a. Mit dem Brüchtenwesen sind auch die inhaltsreichen Wortbildungen verfallen. - Die Eisenbahn kommt ins Land. Neue Dinge und neue Namen folgen ihr. Die Sprache wächst mit dem Verkehr. Nun ist es im allgemeinen so, dass der Verkehr von der Stadt landwärts strebt. Darum dringen vom städtischen Mittelpunkte aus städtische, das sind in der Regel hochdeutsche Sprachformen, auf das Land.

Ein anderes Beispiel. Der Landmann fährt in die Stadt. Seine Töchter sind dort verheiratet, seine Söhne studieren, lernen dort. Die Zugezogenen hören ausschließlich die hochdeutsche Sprache und sprechen sie auch. Der Landmann kehrt heim. Er nimmt die Erkenntnis mit, dass die hochdeutsche Sprache die Sprache der Gebildeten ist. Und gebildet soll und will der Landmann auch sein. Darum gewinnt er Interesse an dem Hochdeutschen und beginnt es zu sprechen. Solange er es als Verkehrs- und Geschäftssprache benutzt, ist nichts dagegen einzuwenden. Doch es bleibt nicht immer bei der schiedlich-friedlichen Teilung zwischen Stadt und Land, zwischen Hoch- und Plattdeutsch. Der Plattdeutsche macht einen weiteren Schritt und spricht sogar in seinen vier Wänden hochdeutsch. Warum? Er glaubt es seinen Kindern, die während der Ferien Landluft genießen, schuldig zu sein. Sonst müssten sie sich ihrer plattdeutschen Eltern ja schämen.

Im vorliegenden Beispiele ist der Übergang vom Platt- zum Hochdeutschen nicht die Folge der veränderten Landschaft oder Lebensweise, nicht allein die Folge der Verkehrs, sondern in erster Linie eine tiefernste Angelegenheit des menschlichen Herzens. Eine Angelegenheit, die sogar mit dem vierten Gebote "Du sollst dich deiner plattdeutschen Eltern nicht schämen" in sehr enger Verbindung steht.

Ich habe oben schon gesagt: "Zur niederdeutschen Landschaft gehört der niederdeutsche Mensch, zum niederdeutschen Mensch die niederdeutsche Sprache." Wer das nicht verstehen und begreifen, wer nach dieser Erkenntnis nicht handeln kann, gibt sich selber auf. Oder glaubt er durch die Angleichung in der Sprache den Unterschied zwischen Stadt und Land beheben zu können? Es kann höchstens eine Verschiebung der Unterschiede vom kulturellen auf das rein wirtschaftliche Gebiet hin erfolgen. Unterschiede bleiben bestehen, solange es "Stadt und Land" gibt.

Naturgegebene Eigenarten der Sprache lassen sich ungestraft nicht beseitigen. Man spricht heute von großen Stadt- und Industrieproblemen, die ihren Angelpunkt im Menschen der Industrie, im Menschen der Stadt haben. Ich erhebe die Stimme und frage: Gibt es nicht auch ein niederdeutsches Problem? Wenn ja, dann heißt die zweite Frage: Kann dieses Problem vollends ohne die niederdeutsche Sprache gelöst werden? Nein. Wer nun glaubt, es doch zu können, erkennt die Bedeutung des Plattdeutschen als Ausdrucks- und Verständigungsmittel. Der Bauer, der in die Stadt kommt, muss sich dem städtischen Willen unterordnen und sich der hochdeutschen Sprache bedienen. Nun drehe man bitte den Spieß um: Wer des Hof des Bauern betreten will, muss das Heck zu öffnen verstehen. Wer die Seele des Landmanns gewinnen will, muss seine Sprache sprechen oder wenigstens ein feines Verständnis dafür haben. Ich denke an Grimmes verschneite Studenten, die von dem vorsichtigen Müller erst dann zur Nacht aufgenommen wurden, als sie sich im sauerländischen Platt als Landsleute entpuppten. So wurde das biedere Platt ein Schlüssel zum Herzen des Müllers. Gibt es im Völkerleben nicht ähnliche Erscheinungen? Haben die Engländer nicht ihren Vasallen die Muttersprache gelassen und so ihre Seelen gewonnen? Gewährt nicht das Deutsche Reich seinen Minderheiten völlige Sprachfreiheit? Darum, Niederdeutsche, bleibt eurem Plattdeutschen treu!

Der Hochdeutsche soll hören und wissen, dass der Niederdeutsche gleichberechtigt ist, dass er mit ihm in enger Wechselwirkung steht, dass der Niederdeutsche nicht nur der Nehmende, sondern vielfach der Gebende ist. Die meisten Plattdeutschen gehören dem Nährstande an. Auch in biologischer Hinsicht steht der Hochdeutsche in Abhängigkeit. Wenn er in den Jahrbüchern seines Geschlechtes zurückblättert, wird er entdecken, dass seine Vorfahren Kinder des flachen Landes waren, dass sein Ahne Bernd hieß, die Ahnfrau sich schlichtweg Miktrin nannte. Was meist du wohl, mein lieber Asphalttreter, haben Bernd und Miktrin hochdeutsch oder plattdeutsch miteinander gesprochen? Plattdeutsch natürlich. Ganz recht. Weißt du auch, dass unser Hochdeutsch als Schriftsprache künstlich zurecht gemacht und kaum 400 Jahre alt ist? Unser Plattdeutsch ist neben den anderen Dialektsprachen älteren Datums. Sie ist bei der Taufe des Hochdeutschen Patin gewesen. Damit ist auch die sprachliche Abhängigkeit des Hochdeutschen vom Niederdeutschen erwiesen.

Darum, mehr Ehrfurcht vor dem Plattdeutschen! Nicht jeder kann es sprechen und schreiben. Das verlangt auch niemand. Wir dürfen froh sein, dass wir eine gemeinsame hochdeutsche Schriftsprache haben. Jedes Kind, auch das plattdeutsche, soll sie sprechen und schreiben lernen. Daneben möchte ich aber das Plattdeutsch als eine gleichwertige Sprache anerkannt wissen. Das Plattdeutsche vor einem zwangsläufigen Verfall zu bewahren, ist unsere Aufgabe. Unserer niederdeutschen Dichter gehen uns mit gutem Beispiele voran. Für sie ist die Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit der beiden Sprachen eine Selbstverständlichkeit. Sonst könnte sie sich an ihrem Platt nicht so begeistern und ihre Begeisterung nicht auf andere übertragen.

Und so schön klingt unser Platt. Auch das sagen uns die Dichter Klaus Groth, dessen holsteinischer "Quickborn" jedem Niederdeutschen bekannt sein dürfte, spricht es in der letzten Strophe seines Gedichtes "Min Modersprak" also aus:

So herrli klingt mi kenn Musik
un singt kenn Nachdigal;
mi lopt je glik in'n Ogenblick
de hellen Thran hendal.

August Wibbelt, der niederdeutsche Pfarrherr, singt so von seinem Platt:

Doch wat is dat?
Et lütt so trü und lütt so däftig,
et grient so still un lacht so kräftig
det aolle Platt

Also, schön ist unser Platt auch. Nur schade, dass unsere plattdeutschen Dichter so selten gelesen werden! Das liegt aber nicht an dem schlechten Willen, sondern an dem Nichtkönnen. Von einem Bibliothekar einer Volksbücherei hörte ich, dass der Niederdeutsche im allgemeinen kein Verlangen nach Dialektdichtungen habe. Was da zu tun ist, darüber an anderer Stelle mehr.

Obwohl die plattdeutsche Dichtung begeistert, darf man ihre befruchtende Wirkung nicht überschätzen. Die Sprache wendet sich an das Ohr, nicht die Schrift. Nur wer plattdeutsch spricht, dient dem Platt. Solange uns die Modersprak noch täglich begleitet, nicht nur bei Arbeit und Spiel, sondern auch im Gebete, brauchen wir ihren Untergang nicht zu fürchten. Wir wollen der Wahrheit die Ehre geben: Es gibt auch heute noch Mütter, die ihre Kinder mit einem plattdeutschen Gebet oder Wiegenlied auf den Lippen zur Ruhe bringen. Wir kennen das schöne Gebet "Vetien Engel schickt mi Gott" mit dem Vorspruch "In Gotts Namen schlöpt min Kind in" und summen mit, wenn die Mutter summt: "Slop, Kindken, slop".

Nun ist nach dem Kriege eine Bewegung eingetreten, die dem Plattdeutschen dienlich ist. Deutschland, das seine Weltgeltung verloren hat, fängt von unten wieder an. Es besinnt sich auf urdeutsche Ideale. Dazu gehört das Ideal der Heimat, die Liebe zur Muttersprache. Plattdeutsche Vereine tun sich auf. Heimatschriften werben in Wort und bild. Und merkwürdig, nirgendwo eine Überspannung des Heimatgedankens. Selbst Niederdeutsche treten, selbstverständlich unter Wahrung ihrer Rechte, Sprache und Sitte, für die Verwirklichung des deutschen Einheitsstaates ein.

Darum verlangt auch niemand, dass in den Schulen Niederdeutschlands noch mehr plattdeutsch gesprochen, gelesen und geschrieben wird. Wir verlangen nur, dass die Schule unser Platt nicht verächtlicht mache, dass sie plattdeutsche Sprech- und Lesestunden ihrem Betrieb einordne. Dann wird die Kunde von der plattdeutschen Dichtung auch ins Volk dringen, dann wird der Niederdeutsche auch gern zum plattdeutschen Buch greifen.

Noch eins kann die Schule mit Unterstützung des Elternhauses tun. Wir wissen alle, wie groß der Sammeleifer unserer Kleinen ist. Wer es nicht weiß, lasse sich den Inhalt der Hosentaschen seines Buben vorzeigen. Was da nicht alles zum Vorschein kommt! Ob wir den Sammeleifer der Knaben nicht auch auf das Geistige, z. B. auf das Sprachgebiet übertragen können? Dann sammeln sie plattdeutsche Sprachgüter aller Art, nicht nur Wörter, sondern auch plattdeutsche Kinderlieder, Sprichwörter, Märchen, Sagen und Rätsel, also unsere ungeschriebenen Volksdichtungen. Ob die Kinder in der Schule nicht einmal einen Aufsatz über Plattdeutsche Rätsel schreiben sollen? Allerdings dürfen sie die Arbeit nur als eine ganz besondere Vergünstigung ansehen. Im anderen Falle könnte der Schaden für das Plattdeutsche größer sein als der Nutzen. Verstöße gegen die Rechtschreibung kennt man im Plattdeutschen kaum. Das kommt dem Sammeln zugute. Die Krönung der plattdeutschen Sammelarbeit soll das westfälische Wörterbuch sein. Wer daran mitarbeiten will, wende sich an das Westfälische Wörterbuch, Münster i. W., Domplatz 20.

Sollen wir noch plattdeutsch sprechen? Ja, solange es noch eine Heimat, eine niederdeutsche Scholle, eine niederdeutsche Zunge gibt. Darum pflegt die Heimat, pflegt die Liebe zu ihr, dann wird auch das Wort bleiben!

Karl Wessels.


Dieser Artikel von Karl Wessels erschien 1929 in den Gladbecker Blättern, Seite 14 bis 16


letzte Änderung: 02.05.2010 Impressum - Datenschutz