Karl Wessels: "Der rote Bach"

Grafenwald

 

Dieser Artikel von Karl Wessels erschien am Mittwoch, den 18. August 1926 in der Gladbecker Zeitung / Kirchhellener Volkszeitung

 

 

Der rote Bach.
Plaudereien von einem Grenzbach zwischen Rheinland und Westfalen.
(Nachdruck nur mit Genehmigung des Verfassers erlaubt.)

Die "Rote Beke" hatte es vor hunderten von Jahren etwas bequemer als heute. Ihr Weg zum Rhein war nicht so weit, denn damals rauschten und rollten des gewaltigen Rheinstroms Fluten noch an unseren Fluren vorüber, überschwemmten in gewissen Zwischenräumen das Land und ließen schimmerndes Rheinkies als Zeugen jener stürmischen Ereignisse zurück.

Wir Menschen sind im Vergleich zur Mutter Natur doch kurzsichtige Geschöpfe! Wir denken nur immer an das "Heute" und an das "Morgen" und selten an die meilenweite Zukunft. Dagegen rechnet die Natur mit Jahrhunderten und Jahrtausenden. Darum konnte sie damals schon dem flutenden Rheinkies jene große Zukunft vorhersagen, die sich in unseren Tagen zu erfüllen beginnt. Wohl bereiten die Abermillionen Kieselsteinchen dem pflügenden Landmann keine Freude, aber ihre Nützlichkeit im Haushalte der Natur und Kultur wird doch allgemein anerkannt. Wer sich von der vielfachen Verwendungsmöglichkeit des Kiessandes ein richtiges Bild machen will, der besuche die modernen Sand- und Kieswerke am alten Postweg, der schaue dem Straßenbau oder dem Bau einer gewöhnlichen Siedlung zu. Ohne den Kiessand, darf ich wohl sagen, wäre unsere neue Johanneskirche wohl nie so felsenfest geworden.

Heute nun wandert der Rote Bach her und hin, sucht das Rheintal hinter jedem Stein und Hügel, macht hundert und einige Biegungen (oder sind es nicht so viele?), hält den alten Mauern von Dinslaken seinen Spiegel vor und findet ihn endlich, den guten Vater Rhein.

Roter Bach, nun hör einmal: Zwischen Quelle und Mündung ist der gerade Weg doch immer der kürzeste. Das hast du sicher auch schon nach den ersten Windungen erfahren. Trotzdem schlängelst du deinen krummen Weg gemächlich weiter. Sag, warum tust du das? Was hält dich zurück? Sind es die Fischlein im Teiche der Grafenmühle, die glitzendern Wasserjungfern oder das rauschende Schilf? Hat dir des Mühlrads Schwere die jugendliche Kraft und springende Luft genommen? Oder musst du bei jeglichem Wurzelstock und Kieselstein anklopfen und vorsprechen? Ich glaube fast, deine Schwatzhaftigkeit und mädchenhafte Neugier lassen dich ein wenig länger als nötig verweilen.

Das ist sicher, manchem Märlein hast du gelauscht; von mancher vergessenen Geschichte weißt du einen Vers zu machen. Darum sprich, was hörtest du von den schweigsamen Nonnen, die 1240 von Duisburg kommen, auf Defften Feld sich ansiedelten? Ziesterzienserinnen im weißen Gewande sind es gewesen. Haben sich nicht an deinen Ufern geweilt, vielleicht plauderndt gerastet? Warum sind sie schon nach einigen Jahrzehnten nach Sterkrade verzogen? Die Urkunden schweigen darüber. Darum sprich du, Roter Bach, du weißt es ja!

... Hellebardenklang und Pferdewiehern, Kriegsrufe und Fluchen ... Rot im Land ... Truchseß, der Erzbischof von Köln, der abtrünnig geworden und sich ein Weib genommen, aller kirchlichen Würden enthoben, kämpft um seine weltliche Machtstellung. Heulender Novembersturm umbraust den Tross, der gerade in den Brabeckerweg einschwenkt. Brabeck, die Einfallspforte des Vestes Recklinghausen, soll gewaltsam genommen werden ...

Roter Bach, du kennst den sagenhaften Kriegerkirchhof in deinem Grunde. Maienglöcklein duften darüber und über allem Leid, das sich an seinen Namen knüpft, grünt hoher Farn. Du kennst das Leid und seine Toten. Und ihre Namen verschweigst du uns?

Über dem Farn und über dem Leid rauscht ein hoher Wald, rauscht und raunt von grimm'gen Kriegen.

Ein Jahrhundert und noch fünfzig Jahre weiter. Des Posthorns friedsame Töne klingen über die Höhen und hinab ins Tal. Seit dem 1. Januar des Jahres 1723 verkehrt ein fürstbischöflicher Postwagen zwischen Bonn, Köln und Münster. Er durchquert das obere Tal des Roten Baches. Mühsamer Weg! Im Kieslande knirschen die Räder und drehen sich langsam den Berg hinan. Das Dreigespann hat seine Last ... O ja, trara!

Eines schönen Tages, die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts mochte eben vergangen sein, hält der Postillon mitten im Trara inne. Die Pferde rasten. Fahrgäste kriechen unter dem Leinenverdeck hervor. Fragenden Blickes schaut der Postkutscher ins Tal und über dem Staunen vergisst er sein Trara zu vollenden.

Im Tale kräuseln blaue Dämpfe. Es sind Meiler, die dort brennen. Sie verraten neues Leben. In der Antony-Hütte hat es seinen Anfang genommen. Dort wurde der rheinisch-westfälischen Eisenindustrie das Wiegenlied gesungen. Ein unternehmungslustiger Gründer aber war ein Kind Kirchhellens, der Domkapitular Franz von der Wenge, geboren auf Haus Beck. (S. Vest. Kal. 1923.)

In dem Meilerhaufen werden die Holzkohlen, die man für den Schmelzprozess benötigt, gebrannt. Ihre Gewinnung gestaltet sich recht langwierig und schwierig. Der Vest. Kal. des Jahres 1927 berichtet eingehend über das "Meilern" oder "Köhlern" im Rotbachtal. Hier sei zum besseren Verständnis in aller Kürze folgendes gesagt:

An drei senkrecht stehenden Richtstangen, die mit Weiden- oder Birkenruten untereinander verbunden sind, werden die ersten Hölzer angestellt, immer mehr, bis der Meiler den gewünschten Umfang erreicht hat. Auf das untere "Gesett" folgt eine zweite und darauf eine dritte Holzschicht. Nach oben hin läuft der Meiler allmählich spitz zu. Er wird mit Rasenpolstern und Sand "verputzt". Nur das "Herz", der leere Raum zwischen den Richtstangen, bleibt frei. Der Köhler schüttet Holzkohlen hinein, stampft sie recht fest und füllt glühende Kohlen nach. Jetzt wird auch das "Herz" zugemacht. Das Feuer breitet sich nach unten und nach der Seite aus. Am Boden bohrt man Löcher, um den Luftzug zu fördern. Infolge der Verkohlung sinkt der Meiler. Immer höher bohrt man die Löcher. Nach etwa vierzehn Tagen ist der Meiler "gar" oder fertig. Man lässt ihn ausglühen. Dann werden die Kohlen auseinandergezogen und - wenn nötig - mit Sand oder Wasser gedämpft. Jetzt wissen wir auch, warum die Meiler am Bache stehen. Die Holzkohlen werden mit kleinen "Rispeln" auf Korbwagen geladen, und dann geht's zur Hütte. Während der Jahre arbeitet sich manches Stückchen Kohle durch das Geflecht des Wagens hindurch. Es hüpft in den Sand und bleibt liegen, bis ein glücklicher Finder sich danach bückt. Armselige Zeiten, als man den Finder einer Holzkohle glücklich nennen konnte.

Jahre kommen und gehen. Die fürstbischöfliche Postlinie hat ihren Dienst eingestellt. Einsamer Postweg! Er schläft. Die neue Provinzialstraße hat ihm alle Lasten abgenommen.

Am Roten Bach aber glühen immer noch die Holzkohlen. Der letzte Holzkohlenhochofen der G. H. H. wurde 1875 ausgeblasen. Der westfälische Koks hat die Holzkohle endgültig abgelöst. (Siehe: "100 Jahre Gute-Hoffnungs-Hütte", Oberhausen 1910.)

Lebendige Erinnerungen an jene Zeiten gehen noch im Tale um. Über den Meilerstellen wölben prächtige Buchen ein grünes Zelt. Ihre Wurzeln führen Zwiesprache mit den schwarzen Hölzern, die hier und da noch unter der Erde ruhen. Dort am steilen Hang hat die Köhlerhütte gestanden. Wenn der Meiler in Tätigkeit war, mussten die Holzbrenner Tag und Nacht zugegen sein. Nur zu leicht konnte die Glut ausbrechen und den ganzen Meiler verbrennen. Also hieß es aufpassen! In jener Hütte fand die Ablösung notdürftigen Schutz gegen Wind und Wetter.

Aber nicht nur die Erinnerungen, nein, wirkliche "Veteranen" der Köhlergenerationen leben noch. Schwatten Peters Berndt (Bernhard Uhlenbrock) hat bereits das löbliche Alter von 82 Jahren erreicht. Heute lebt er im wohlverdienten Ruhestand und, das gehört auch zu seinem Glück, er wohnt ganz in der Nähe des Roten Baches.

Die Leute jener Zeiten hatten noch eine andere, wenn auch bescheidene, Erwerbsquelle. Sie fingen Krebse und verkauften sie an die Herren der Industrie. Manches Krebslein ging ins Garn. Beim Fangen bedienste man sich der verschiedensten Hilfsmittel. Das einfachste war wohl ein Geflecht aus Schleedorn, in dessen Mitte ein verendeter Frosch als Köder saß. Gewahrte der Krebs den fetten Bissen, dann versuchte er ihn mit den Scheren zu ergreifen. Aber, o weh! Es kostet ihn seine Freiheit. Er hakt mit den Scheren im Dorngestrüpp fest, daraus es kein Entweichen mehr gibt. Erfolgreicher war der Fang mit dem Krebsteller, der aus einem kreisrunden Bügel hergestellt und mit dünnem Bindfaden netzartig überspannt war. Der Teller wurde mit drei oder vier Fäden an einen Stock befestigt, dieser in den Sand gesteckt, so dass die Fangvorrichtung waagerecht im Wasser schwebte. Über dem Teller hing der Köder. Wollte der Krebs ihn erhaschen, dann wurde ihm das Netz des Tellers zum Verhältnis.

Seit den siebziger Jahren ist es mit dem Krebsfang vorbei. Die Krebspest hat unter den Krustentieren gründlich aufgeräumt. Wer heute davon noch eins in unseren Gewässern zu sehen bekommt, kann von seltenem Glücke sagen.

Nun haben wir den Klängen der geschichtlichen Vergangenheit des Roten Baches gelauscht, bleibt uns noch des romantischen Tales lebendige Gegenwart zu erforschen übrig. Wollen wir sie nicht auf einer kurzen Streife schauend genießen?

Wohlan, beginnen wir an der Grafenmühle. Der Volksmund nenn sie "Prockelisers Müelle". Von hier an gilt erst der Name Roter Bach. Oberhalb des Teiches heißt das Wässerlein, dessen Quelle auf Sterkrader Gebiet liegt, Ebersbach. Nach einigen Sprüngen dehnt sich das Wasser weit und geruhsam im Teiche der Grafenmühle, trägt leichte Gondeln zum Vergnügen und murmelt hinab in den Roten Bach. Der schäumt rauschend über den hiesigen Grund und lässt des Eisensteins rötlichen Schimmer heraufleuchten. Wir sehen also, der Rote Bach trägt seinen Namen mit vollem Rechte.

Der alte Postweg steigt an. Auf Bromkamps Berg biegen wir vor den hohen Tannen nach SW. ab, um auf diesem Wege wieder ins Rotbachtal zu gelangen. Doch verweilen wir noch einige Minuten auf der Anhöhe.

Der steil abfallende Weg zeigt deutlich die Spuren der letzten Regenschauer. Hier flutete das Wasser in mächtigen Rinnsalen den Hang hinunter. Heute sind sie trocken. Umso besser vermögen wir die geologische Wirksamkeit (Erosion) des Wassers festzustellen.

Am südlichen Hang wachsen langnadelige Edeltannen. Verschiedene Triebe zeigen die Form eines Posthornes. Eine merkwürdige Erscheinung, die durch den Kieferntriebwickler verursacht wird. Der Wickler beißt und frisst in dem Trieb und knickt ihn nach unten ab. Der aber richtet seine Spitze allmählich wieder nach oben, strebt zum Lichte und bildet dann die bekannte Form des Posthorns. In den hohen Tannen zur Rechten, dort, wo die Waldohreule im verlassenen Krähennest haust, wo der Turmfalke über einer Lichtung "rüttelnd" nach Beute späht, sehen wir die verheerende Tat eines anderen Kiefernschädlings. Die Stämme sind von dem austretenden Harz weiß geworden. Das sind die Spuren des Waldgärtners. Auch er liebt die jungen Triebe und lässt sich's darin gut schmecken. Wenn der Westwind durch die Föhren fegt, fallen die beschädigten Triebe ab. Sie bedecken den Waldboden ringsum.

Durch Wald und Heide führt ein schnurgerader, 50 m breiter Feuerschutzstreifen. Er ist zum Teil mit Gras bestanden, zum Teil sogar mit Roggen besät. Die Forstverwaltung und der Ruhrsiedlungsverband geben sich alle Mühe, um das schöne gesegnete Tal vor gefährlichen Feuern zu bewahren. Wir wollen's ihnen danken, indem wir jegliches Abreißen von Pflanzen und das Zertreten der Schonungen unterlassen. In sorglicher Zusammenarbeit muss die grünende und blühende Zukunft unsere Tales sichergestellt sein.

Der Verhütung und Bekämpfung des Waldbrandes dienen auch die Feuerwachttürme, davon drei an der Zahl in der gefährdeten Zone auf Posten stehen. Von der Grafenmühle aus konnten wir einen Turm sehen. Er steht etwas abseits vom alten Postweg. Sein Nachbar hält in der Kirchhellener Heide Umschau und der dritte im Bunde wacht über Dinslaken-Hiesfeld. Beim geringsten Feuerschein richten die Beobachter ihren Messapparat auf den Brandherd, lesen die Messzahlen ab und melden sie dem Forsthaus Schlägerhardt. Der Draht über unseren Häuptern ist ein Feuermelder, zugleich aber auch der einzige Vertreter unserer modernen Technik hier im stillen Tal.

Seit kurzem macht sich die Forstkultur bemerkbar. Die Herzoglich Arenbergsche Verwaltung hat den noch vorhandenen Hochwald mit Buchen, japanischen Lärchen und amerikanischen Eichen unterbauen lassen. Die Pflänzlinge stehen gut. Der Boden sagt ihnen zu, und die frische Luft, die nur bei entsprechender Windrichtung giftige Dämpfe mit sich führt, wird ihnen erst recht gut tun. Die Unterbauung geschah selbstverständlich nach den bewährten Mischwaldsystem. Es standen hier übrigens immer schon die Laub- und Nadelbäume im bunten Verein. So wird es dank der Fürsorge des Försters auch in aller Zukunft sein.

Die Fruchtreife bringt dem Roten Bach besondere Reize. Nicht weil einige Kastanien, Birnen und Äpfel, die dem Rotwild zur Nahrung werden sollen, der Reise harren, o nein, die glühen und leuchten nicht. Aber im Spätsommer und im Herbst, wenn die Beeren reifen, dann rötet sich das Tal. Mit den Waldbeeren beginnt es. Sie überstürzen sich im Reifen, werden überrot, Peter und Paul sind sie schon schwarz und blau. Dann ist hohe Zeit im Sammeln. Eine neue Erwerbsquelle, die leider nicht lange fließt. Der Ordnung halber muss sich jeder Beerensammler vom Förster einen Schein holen. Die damit verknüpften Kosten und Mühen werden im Glücke reicher Ernte bald vergessen sein. Auf den niederigen Höhen des vestischen Landrückens, der zwischen dem Roten und zwischen dem Schwarzen Bach seinen Anfang nimmt und hierzulande Els genannt wird, reift die Krons- oder Preißelbeere. Sie wird hübsch rot und - das eine Bäckchen bleibt oft recht lange blass - ist im Geschmack herbe, doch süß. - Nach der dritten Waldbeere müssen wir schon eifrig suchen. Sie ist ein Vertreter der atlantischen Flora und wünscht moorigen Boden. Vor einem Menschenalter soll sie hier verbreitet gewesen sein und die stattliche Höhe von anderthalb Meter erreicht haben. Sie stirbt aus, weil auch die Moore unserer Heimat allmählich aussterben. Nur die Kinder der Heide wissen noch den Namen der seltenen Pflanze und kennen ihre schwarz-blauen, nicht färbenden Beeren. Hiesbeere heißt sie und vermutlich hat sie unserem benachbarten Hiesfeld den Namen gegeben. Damit keine Verwechselung möglich ist, will ich den botanischen Namen hierher setzen: Vaccininum uliginosum.

Zur hohen Sommerzeit reift auch die Himbeere am Bach. Sie zeichnet sich durch ihre feurig-rote Farbe und einen vorzüglichen Geschmack aus. Als wenn sie das selbst wüsste! Sie hängt ihre Beeren über das Wasser, spiegelt sie in der klaren Flut und freut sich ihrer Pracht. Oder will sie ihre Frucht vor den begierigen Menschenhänden schützen? Vergebens, die Liebhaber erreichen sie doch. Sind's nicht die Menschen, dann sind's die Tiere des Waldes.

Zur Herbstzeit wandern die Krammetsvögel durch das Tal. Sie stärken sich an den roten Beeren der Eberesche, die leider nur spärlich vertreten und als ausgewachsener Baum kaum anzutreffen ist. Ihre recht ansehnlichen Blütenstände werden gern gepflückt. Wehrlos muss sie sich das gefallen lassen. Schützen wir sie deshalb!

Die Stechpalme, Hülse genannt, die wegen ihrer Blätter und rotglühenden Beeren so begehrt ist, wehrt sich so gut sie es kann. Aber das Messer des unbarmherzigen Menschenkindes schont sie nicht. Darum hat der Siedlungsverband in einem besonderen Schreiben auf die Gefahren, die der Hülse drohen, aufmerksam gemacht.

Je länger man sucht, desto mehr Beerensträucher findet man. An einem Erlenstamme schlingt sich das Waldgeißblatt empor. Seine knallroten Beeren schmecken den Vögeln gut. Ein Verwandter des Geißblattes ist der gemeine Schneeball. Auch ihn zieren rote Beeren. Der Schneeball unserer Gärten dagegen ist unfruchtbar. In der Nachbarschaft der beiden steht der Faulbaum. Die Kohne aus seinem Holze wurde früher bei der Bereitung des Schießpulvers verwandt. Zu erwähnen ist noch, dass die Beeren des Faulbaumes hier in der Gegend als solche der Tollkirsche angesehen werden. Zum Glück kommt die Tollkirsche bei uns nur in den Büchern und dann und wann auch in der Schule vor.

Lassen wir nun die Beeren leuchten, denn eine andere Pflanze bittet um ein wenig Aufmerksamkeit. Stellen wir sie gleich vor: Königsfarn, Osmunda regalis, der einzige Rispenfarn Deutschlands. Er entwickelt seine Sporen (Fortpflanzungskörperchen) nicht wie die anderen Farnkräuter auf der Blattunterseite, sondern oben an den grünen Wedeln, die weithin als rostfarbene oder braune Rispen in Erscheinung treten. Der Königsfarn gehört zu den vierzehn im gesamten preußischen Staatsgebiet geschützten Pflanzen.

Wir nähern uns dem dunklen Tann im tiefen Tal. Ein malerischer Birkenweg führt zur Els hinan. Ein selten schönes Bild. Wie weißgekleidete Jungfrauen stehen die Birken in ausgerichteter Reihe da. Wie wehen und fliegen ihre schwankenden Zweige im Winde. Von Bubikopf keine Spur.

Ein ausgetretener Pfad führt in den Tannenhain. Nur einige Schritte weit. Dort ist ein Bohrloch. Das ist sicher nichts besonderes, aber es fördert dauernd fließendes Wasser zutage. Aus welcher Tiefe mag es kommen? Wie schmeckt es? Ich will's nicht kosten.

Weiter geht's den Talweg hinab. Ein goldgeschmücktes Ginsterfeld hemmt unseren Schritt. Welch herrlicher Anblick im Sonnenschein! Überall Sonne, gleißendes Gold, Glück und blühende Freud. Und doch, auch der Ginster hat sein Leid. Wenn er nur reden könnte, dann würde er von einem bösen Schmarotzer erzählen. Aber so schweigt er und gibt großmütig von seiner gesammelten Nahrung ab. Auf seinen Wurzeln schmarotzt die Sommerwurz, Orobanche rapum-genistae. Sie kennt keine Arbeit und kein Nahrungsammeln. Sie hat auch kein grünes Kleid mehr, deshalb schämt sie sich und verkriecht sich im Schatten ihrer Wirtspflaze. Unser Herrgott hat doch merkwürdige Kostgänger.

Der Abend senkt sich herab. Die Wälder schweigen. Ein Vogel "klatscht" über den Weg, setzt sich, steigt auf und streicht über unsere Köpfe hinweg. Er ist verschwunden. In der Ferne macht er sich wieder bemerkbar: Rrrrrörrrrrörrrrrörrrr ... Bei dem ö senkt sich die Stimme der Nachtschwalbe, denn um eine solche handelt es sich. Abergläubische Leute nennen sie auch Ziegenmelker. Treffender ist der niederdeutsche Name "Dagschlöper", denn erst gegen Abend beginnt sein Leben, sein Rufen und sein Insektenfang. Dabei reißt er seinen Schnabel bis hinter die Ohren auf.

Eine Brücke im Tal. Der Wald öffnet sich. Ansiedlungen werden sichtbar. Niederrheinische Landschaft. Unter unseren Füßen fließt der Schwarze Bach. Trotz seines verdächtigen Namens, den er aus dem Moorgebiet der Kirchhellener Heide mitgebracht hat, führt er ein klares Wasser. Am rheinisch-westfälischen Eck vereinigt er sich mit dem Roten Bach, gibt also seinen Namen und seine Selbstständigkeit auf. Unser Rotbach aber fließt mit verstärkten Kräften gen Dinslaken, alle Waldromantik hinter sich lassend. Armer Rotbach, jetzt heißt es, schön gerade gehen. Krumme Bäche brauchen Bewegungsfreiheit und viel, viel Land, und das ist hier im Angesichte der Industrie rar und teuer. Darum hat dir der Nützlichkeitsfanatiker Mensch eine Zwangsjacke nach dem neuesten und engsten Schnitt angelegt. Um Land und Geld zu sparen, hat man dich in einen Abwässerkanal verwandelt. O, ihr Menschen, was habt ihr aus dem schmucken Waldburschen gemacht!

Roter Bach, eigentlich müsstest du Schwarzer Bach heißen, wir kehren zurück zu deiner Jugend, zu deinen Wäldern und Beeren, wollen deine Schönheit genießen, solange es noch Zeit ist, denn wir wissen, auch deinem oberen Lauf drohen Gefahren. Die Zeche Haniel will dich mit ihren Abwässern beglücken. Auch dein stilles Tal soll durch eine Verbandsstraße dem großen Verkehr erschlossen werden.

Das Urteil ist bereits gesprochen, aber noch nicht gefällt. Heimatfreunde vor die Front! Rettet den Rotbach!

Karl Wessels. Kirchhellen.


letzte Änderung: 22.12.2011 Impressum - Datenschutz